Helge Baumgarten, Jahrgang 1975, Kenner und Sammler junger zeitgenössischer Kunst, studiert nach verschiedenen Stationen im Buchhandel und Verlagswesen seit 2011 Kunstgeschichte an der TU Berlin. Er ist u.a. als freier Mitarbeiter für die Galerie Egbert Baqué Contemporary Art tätig.

 

„Es bleibt etwas übrig - nämlich ein Bild“
Wolfgang Neumann im Gespräch
mit Helge Baumgarten, Berlin, April 2014

Helge Baumgarten:
Flashlight & Blackout
ist seit 2001 bereits deine dreiunddreißigste Soloschau. Kurz zusammengefasst: Was ist das Thema der Ausstellung?

Wolfgang Neumann:
Oh, diese Zahl hatte ich noch nicht realisiert, obwohl ich die Liste natürlich kenne.
Ja, der Titel bezieht sich auf das alte Goethe-Zitat: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ Das ist ein bleibendes Thema aus dem echten Leben, bezeichnet meine Art und Weise mit starken Kontrasten zu arbeiten und passt auf der politischen Ebene nach Berlin mit der schnellen Umwertung von Leuten wie Wulff und Guttenberg. Erst kommt das Blitzlichtgewitter, dann das schwarze Loch. So passte mir auch das Wandbild mit den taumelnden Boxern ins Konzept, im Moment, wo das Licht ausgeht. Hochinteressanter, klassischer Sport.

Nicht nur ein hochinteressanter und klassischer Sport, sondern auch ein unerschöpfliches Thema in Bezug auf Kunst! In das Thema können wir nachher sehr gerne tiefer einsteigen. Doch lass uns zuerst einen Bogen schlagen von der Ausstellung zu deinen anderen Bildern. Wenn du dein bisheriges Oeuvre im Laufe der Zeit betrachtest, welche Veränderungen stellst du in deinem Schaffen fest?

Erstaunlich, dass du gerade jetzt diese Frage stellst. Denn nach meinem Atelierumzug letztes Jahr sind mir sehr viele alte Bilder in die Hände gefallen, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das geht bis zum Ende der 90er Jahre zurück. Und einen Teil davon, z.B. auch das Bild Blumerant in dieser Ausstellung, habe ich mir nochmal vorgenommen und bis auf wenige Stellen, die als Verbindung zu damals stehen bleiben, komplett überarbeitet. Dadurch war ich natürlich mit der Arbeitsweise konfrontiert, die ich damals hatte.
Ich sehe den stilistischen Unterschied ja nicht so distanziert, wie jemand von außen; für mich haben sich vor allem die Arbeitsprozesse verändert und erweitert. Zum einen über das Material, das sich weit erstreckt von Leinwandarbeiten, wo ich mit Sprühlack, Acryl und Öl aufbauend arbeiten kann, über die Zeichnung, bis hin, auch ganz aktuell, zu plastischen Sachen. Und dann, dass ich gerne längere Zeiten in Anspruch nehme, um ein Bild zu machen. Wenn ich am Bild arbeite, geht es sehr schnell voran, aber die Zeiten, in denen das Bild steht, betrachtet wird und sich bestätigen muss, die Zwischenzeiträume also, die werden größer.

Das klingt so, als ob du in einen buchstäblichen Austausch mit deinen Bildern trittst, der gewissermaßen beidseitig abläuft: auf Seiten des Bildes eine Reifung, deinerseits eine Klarwerdung.

Das kann teils Jahre dauern, bis es an einen Endpunkt kommt. Es gibt bewusst unterschiedliche Arbeitsphasen. Wenn ich beispielsweise einige Wochen stringent an Zeichnungen mit Tusche arbeite, dann entstehen in einem Lauf möglicherweise zehn Blätter. Genauso kann ich Wochen an mehreren Bildern gleichzeitig arbeiten. Die Konzentration ist so hoch bei einer Arbeit, dass ich den Abstand immer wieder benötige, das erlange ich dadurch, dass ich bei einer Sitzung möglicherweise an zwei Arbeiten parallel oder nacheinander schaffe. Jeweils in ihrer eigenen Thematik.
Das ist auch ein Unterschied, der der einzelnen Arbeit am Ende zugute kommt. Durch größere Distanz zum Bild kann ich die falschen Geschenke, Effekte und Nettigkeiten, die im Prozess manchmal auftauchen, besser tilgen, zumindest überprüfen. Die Zeichnung, die bei mir nicht als Ergänzung oder Vorlage fürs Gemälde dient, muss dagegen sofort gelingen, es kann hierbei nicht geschichtet und korrigiert werden. Dieser Prozess ist ein gänzlich anderer. Die Würze liegt in der Abwechslung.

Wie stark biographisch ist dein Werk geprägt?

Jede Äußerung von Kunst, zumal von handgemachter, ist natürlich eng mit dem Autor verbunden. Das schlägt sich ja auch unbewusst nieder. Immer wieder erkennen Betrachter in meinen Figuren auch Selbstportraits, die von mir nicht so angelegt oder gemeint waren. Allerdings denke ich, dass diese Lesart nicht komplett von der Hand zu weisen ist. Ich finde es auch in Ordnung, wenn das passiert. Die hybriden Eigenschaften der Figuren begrüße ich sogar außerordentlich.

Gerade die Verwendung solcher hybriden Figuren stellt ja eine Bildstrategie dar, auf der sehr viele deiner Bilder basieren.

Ein Vorteil des gemalten Bildes ist, dass es nicht wie ein Foto eindeutig jemanden Bestimmten abbilden muss, sondern dass Abstraktion und Illusion immanent den Gegenstand entrücken und verändern. Das, was ich in der Welt sehe, findet mitunter auch Eingang ins Motivrepertoire. Genauso wie die Bilder die Gegenstände abbilden, ist es ein komponiertes und in vielerlei Abstufungen abstrahiertes Bild. Der Inhalt greift auch in den Ausdruck und den Grad der technischen Ausarbeitung über. Deshalb gibt es da viele Unterschiede in der Bearbeitung und der Temperatur eines Bildes. Wir können viel über Inhalt reden, aber die Maniera, Aspekte von Komposition und der eingeschriebene Prozess am Bild werden oft wegen des lauten Bildgeschehens etwas übersehen. Das ist aber genau so wichtig. Ich will beides. Völlig abstrakte Bilder zu malen, das wäre mir im Augenblick wiederum zu eskapistisch.

Gibt es Wegmarken in deinem Leben, die auf besondere Art und Weise Niederschlag in deiner Kunst gefunden, ihr vielleicht eine andere Richtung gegeben haben?

Es speisen sich Geschichten ein, die man erlebt, das ist ja klar. 2007, in einem Jahr mit massiven Krankenhausaufenthalten von mir selbst, aber auch von anderen um mich herum, kamen einige Bettlägerigkeits-Motive auf, auch Operationsnarben. Das lasse ich schon zu und es findet in einem fürs Bild sublimierten Rahmen statt. Aber es ist mir eher fremd, mich zum Chronisten meiner eigenen, irgendwo auch banalen Geschichte zu machen, in dem Sinne, wie viele Expressionisten, auch Beckmann oder noch direkter Dix, sich an sich, Familie und Freunden abgearbeitet haben. Bei denen finde ich das sehr gut, für mich ist es nicht sinnvoll. Zumindest in der Kunst, in der Literatur wäre das wieder was anderes. Ich möchte auch eine Sentimentalität des Privaten vermeiden. Das Thema Selbstportrait ist dagegen immer latent da, weil man sich selbst schonungslos als Rollenmodell oder in der einen oder anderen Erscheinung mit hineinnehmen kann. Das mache ich eigentlich auch von Anfang an in sehr unregelmäßigen Abständen.

Durch alle Epochen hindurch sind klassische Triebfedern des Kunstschaffens Liebe, Emotionen und Sexualität: Nichts davon ist in deinen Werken vorhanden, wenigstens nicht in dem Umfang, dass man darin eine Motivation für künstlerisches Schaffen entdecken könnte. Warum malst du Bilder, was treibt dich an, und was treibt dich in die Kunst? Oder ist dieser Dreiklang vorhanden, und du chiffrierst ihn bloß bis zur Unkenntlichkeit?

Unsere Vorstellung von Erfüllung und Glück mittels Liebe ist ja relativ neu. Aber das Spannungsfeld Mann und Frau im Kontext von Macht, Repräsentation, Krieg, Überlebensstrategien und Mythen ist und war weit gefasst. Beziehungsgeflechte sind schon auch dargestellt, mitunter familiäre Zusammenhänge, Bindungen und Teams. Einige Bilder fußen auf Märchen, welchen wiederum vielfach eine direkte tiefenpsychologische Komponente auf der Beziehungsebene zuerkannt wird. Vielleicht liegt es daran, dass ich weniger auf der Spur eines Ideals bin, das ja in der großen Liebe, dem großen Glück, dem Mega-Erfolg gesucht wird. Das Ideale, Vollendete und Perfekte ist mir suspekt. Ich bin ein wirklich großer Fan von Meisterwerken der Kunstgeschichte, die es auf unschlagbare Weise leisten, diese Urthemen abzubilden. Es war zu anderen Zeiten auch besser, ungebrochener möglich.
Aber wenn marktwirtschaftlich gesehen Glück und Liebe eher als Klischeeschlüsselreiz der Werbung bis ins total Hohle hinein bebildert sind, Sexualiät als „Währung“ funktioniert, fehlt mir der Ansatz für einen ungefilterten Umgang.

Dem gegenüber stünden solche Begriffe wie Wut, Aggression, Konflikt...

Die zum einen, auch Thanatos, also der Tod, als Gegenstück von Eros schwingt da tatsächlich mit. Die Katastrophe der eigenen Endlichkeit und der dadurch hohe Wert der begrenzten Zeit, die man hat, um zu gestalten, geben mir Anlass, lustvoll mit Motiven und Materialien zu spielen, die Schönheit von Prozess und bildnerischen Stoffen zu genießen und Lebendigkeit schon rein formal abzubilden. So dass es mich elektrisiert, überrascht, kickt und süchtig macht.
Das gibt auch die Antwort, warum man, wie du sagst, „in die Kunst getrieben“ ist und bleibt: Es ist zudem die lustvolle Unzufriedenheit und der schwankende Boden des Unvollendbaren und die Erfüllung im Scheitern. Am siebten Tag muss der kleine Schöpfer noch weiterarbeiten, denn er sah, dass es nicht gut war.
Darum gefällt mir die zweite Version der Auferstehung von Max Beckmann sehr, ein unvollendetes Riesenformat mit diesen verletzten offenen Flanken.

Was mich besonders interessiert ist der künstlerische Prozess in deiner Arbeit, du hast diesen Begriff jetzt schon mehrfach genannt. In Reflex[1], einem Selbstportrait von 2006, sniffst du die Tagesrealität, gespeist aus einer riesigen Tonne, durch einen Trinkhalm, während deine Augen, ihrer Funktion beraubt, herausgerissen, um deinen Kopf herumfliegen. Deine – vermutlich leeren – Augenhöhlen sind durch dunkle Sonnenbrillengläser verdeckt; in Twiterritor[2] saugen diese leeren  Augenhöhlen direkt durch die Strohhalme die Cola ins Hirn. Wie funktioniert deine Wahrnehmung, der Input?

Der Input funktioniert eigentlich pausenlos auf allen Kanälen. So wie ein Bartenwal schwimme ich durch einen Strom an Informationen und es bleibt entsprechend viel Futter und Analogfutter hängen. Ich sammle Ausschnitte und Jpegs wie auch eigene Schnappschüsse. Manchmal gibt es schon Bildtitel oder kleine Scribbles. Zumeist das bewusst wie unbewusst Doppelbödige, Schillernde und Schräge. In mancher Meldung wie auch mancher Bildvorlage steckt dann schon ein Funken Metaphorik drin, der noch Veredelung oder andere Tendenzen benötigt. Es ist mir wichtig, dass es über die Situation hinausdeutet und mit meiner Seherfahrung abgeklopft, abgeglichen und abgerundet wird. Also ein bloßer Bildwitz oder Kalauer wäre jetzt nicht ausreichend als Sujet. Ich will ein großes Moment an Zeitgeistigkeit und Zeitzeichenhaftigkeit.

Um bei dem wirklich sehr plastischen Bild mit dem Bartenwal zu bleiben: Was ist im übertragenen Sinne das Plankton, das sich in den Barten verfängt, und so im weiteren Verlauf in den Organismus eingespeist wird?

Natürlich habe ich verschiedene Filter und ich brauche auch als Subjekt Anlässe, das zu bearbeiten. Ein Prozess des optischen Verdauens ist die Folge, des Nachdenkens, des Verdichtens und der Zerstörung/Decollage im Prozess. Es ist ein freies Spiel und zugleich Katharsis. Es ist ein Widerspruch, aber im Ungeklärten ist viel mehr Wahres und Mögliches als im Eindimensionalen oder Einfältigen. Der Resonanzraum des Unscharfen ermöglicht neue Blickwinkel. Ich hatte ja den Ausstellungstitel Ballaststoffe 2009 für mich auch so gewählt, dass „Kunst schaffen“ auch einen optisch-geistigen Stoffwechselprozess meint: Aufnahme, Verbrennung und Ausscheidung unter Entstehung von Faulgasen. So wie grob geschrotete Getreidehülsen unverdaut ausgeschieden werden, gibt es bei mir im Bildpersonal auch diese wertlosen Hülsen, die werden sprichwörtlich aufs Vollkorn genommen. Dass nun die Hülsen also im Bild neben dem verdichteten sublimierten Vollwert stehen, ergibt für mich im Idealfall ein vielschichtiges Bild, das Wirklichkeit auf eine Art abbildet.

„Geistiger Stoffwechselprozess“ – das ist eine schöne Überleitung. Kommen wir zu deinen Output-Strategien: Deine Bilder Leaker[3], Ratist[4], Klekker[5] zeigen Personen, die Leinwände bemalen; Es gibt keine Pinsel, und auch sonst sind keine Malwerkzeuge zu erkennen – die Farbe spritzt direkt aus den Händen und dem Kopf auf den Malgrund. Deine Arbeit auf Papier von 2004, Projektor[6], ist hier noch direkter, an Stelle des Kopfes strahlt eben ein Projektor voller Sendungsbewusstsein die Bilder in die Welt hinaus. Welchen Weg nehmen deine Motive, bevor sie sich auf der Leinwand manifestieren?

Vom Projektor gibt es sogar noch eine gemalte Version.

Die ich bis jetzt noch nicht kenne - aber es ist konsequent, dass es dieses Motiv auch auf Leinwand gibt!

Kannst du auch nicht kennen, da es nirgendwo abgebildet ist und nur vor Jahren ein bis zweimal gezeigt wurde. Ja, die Bilderscheinung, bzw. das Bilder Generieren, Aufzeichnen oder in diesem Falle direkt Projizieren, kommt immer wieder vor. Wenn die Welt selbst schon so absurd ist und die Kunst dies mit Brennglas betrachtet, bearbeitet und bespiegelt, dann schaltet man noch eine Absurdstufe höher, das bildet sich im Kunstschaffen auch ab. Es ist eine Wechselwirkung von Objektiv, Subjektiv und Pseudoobjektiv. In den Chewseum[7] Gemälden, also Kaumgummi-Museen, steckt das auch drin. Kunst für Kunst zwischen Deko, Unterhaltung und Fake. Die Bildnerei schwebt nicht meilenweit über allem, sondern findet auch ohne große Vehikel direkten unmittelbaren Ausdruck. Der Leaker gehört ja eigentlich zu den Chewseum-Varianten, hier posiert der blaumützige Pollock als „passionierter“ Maler, dessen Wundmale das frische und das verbrauchte Blut zugleich als Dripping auf die Leinwand spritzen. In meinem Hinterkopf hatte ich ein Bild von Mark Rothko, der sich im Atelier umbrachte, indem er seine Pulsadern öffnete: in Gedanken eine finale, absolut herzzerreißende und letztlich schlüssige Bildwerdung.

So weit verzweigt und abwechslungsreich deine Bildwelt auch ist, tauchen bestimmte Motive bereits seit Jahren immer wieder auf, so auch in den Bildern deiner aktuellen Ausstellung. Masken jeder Art, von denen man nicht weiß, ob sie dem Protagonisten den Blick auf den Betrachter verwehren oder umgekehrt, Jungs mit Playstation-Konsolen, die introvertiert ein fiktives Spiel spielen, Crash Test Dummies, die stellvertretend allen möglichen Torturen und Manipulationen ausgesetzt sind und bisweilen irritierend entrückt wirken. Helden der Kindheit, Figuren der Zeitgeschichte und Politiker, Märchenpersonal und Zirkusartisten, immer wieder Kaugummiblasen und Luftballons, an Tieren hauptsächlich Delphine, Bären und Vögel, darüber hinaus Fleischspieße und Lebensmittel vornehmlich tierischer Art: Haben Teile deines Bildpersonals über die Jahre hinweg ein Eigenleben entwickelt, welche Bedeutungen haben diese wiederkehrenden Motive? Was ist dein Inspirationsfundus?

Das Wort Inspiration ist eher was fürs Künstlergenie und für mich zu heilig. Mir begegnen ständig Anlässe zum Malen. Es gibt Gegenstände, die laden förmlich zur malerischen Gestaltung ein und stehen mitunter in langer Tradition.
Zum Beispiel Fleisch und Inkarnat von Rembrandt bis Freud. Das ist einfach ein existenzielles Bildmaterial und eine Materie, deren stoffliche Darstellung per se eine Herausforderung darstellt. Die anderen genannten Bildpersonalien haben auch immer eine bestimmte symbolische oder metaphorische Aufladung, die ich gerne nutze. Und manchmal schleift sich ein Motiv, das der Bearbeitung bedarf, dann eine Zeitlang durch die Bilder. Solange ich mich noch nicht daran ab- oder sattgearbeitet habe, kann das wieder auftauchen.

Zu dieser symbolischen oder metaphorischen Aufladung willst du nichts sagen?

Nee! (lacht) Ach, allegorische Figuren mit diversen Querverweisen gibt’s eigentlich immer wieder. Nehmen wir die von dir genannten Delphine: In der vor ein paar Jahren entstandenen Serie tauchten ja nicht nur Delphine auf, sondern auch Menschen in Delphin- und Killerwal-Kostümen, die repräsentieren für mich in gewisser Weise das superintelligente Tier als den besseren, natürlicheren, sehnsüchtigen Menschen, der gerne zu Adam und Eva ins Paradiesische zurück möchte, aber auf halber Strecke nur als alberner, medizinisch gut eingestellter Spaßmacher im Euro-Disneyland stecken bleibt. Weil er sich auch selbst missversteht. Die haben dann als Repräsentanten allerlei angestellt und sind aber in der Bedeutung immer wieder gebrochen und zurückgebrochen. Das ist nur so ein Beispiel.
Dann gibt es auch immer wieder direkte oder indirekte Verbindungen in die Kunstgeschichte, im Sinne von Remixen oder Déjà-vus. Ein direktes Beispiel wären da die beiden Versionen Schlapp der Vernunft, die auf einem Motiv von Goyas Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus seinem Radierungs-Zyklus Los Caprichos aufbauen. Aber das geschieht hier nur auf Ebene der schlafenden Figur im Zentrum und des Titels. Das meiste in den Gemälden unterscheidet sich stark. Mir gefällt aber der Gedanke, dass Goya als Hypertext und ikonisches Layer mit drunter liegt.

Machen wir einen Ausflug in das aktuelle weltpolitische Tagesgeschäft, Frühjahr 2014. Putin hat die Krim annektiert, Chaos in der Ukraine, die EU ringt um eine angemessene Reaktion, Obama - gebeutelt von der NSA Affäre – versucht, Stärke zu zeigen, weiß aber nicht wirklich wie. Parallel dazu ein Ausflug in vergangene und aktuelle Bild-Welten von dir:

Content[8], 2007, es ist Putin auf dem Schießstand zu sehen, den Hörschutz lässig verkehrt herum aufgesetzt - sein Ärmel ist der Pistolenlauf, aus dem es gefährlich raucht, bereit, erneut zu schießen, das Ziel klar fokussiert.

Shooting Star (You)[9], 2009, Barack Obama strotzt vor Kraft, vergeudet diese dem Weltgeschehen abgewandt mit beeindruckenden Klimmzügen an der Reckstange.

Neujahrsansprache II, 2014, Skeletor schwört vor einem in Dunkelheit liegenden Reichstag das deutsche Volk auf das neue Jahr ein.

Abklinger und Subterrenean Homesick Toast, beide 2014, Stalin schlummert zwar noch friedlich in seinem Grab, sendet aber gleichzeitig verwirrende Geburtstags- und Wiederauferstehungsgrüße aus.

Bereits eingangs hast Du den Begriff „Maniera“ eingebracht, auch Tilman Osterwold spielt auf sie an und spricht deiner Malerei eine „eher [eine] faktisch-realistische Maniera als expressive-impressive Peinture“[10] zu. Ich möchte gerne das Begriffspaar „faktisch-realistisch“ um das Attribut „prophetisch“ oder „sehend“ ergänzen, bezugnehmend auf die Bilderfolge, die ich eben skizziert habe. In dem Gemälde Prognostata[11] von 2010 hast du diesen Blick in die Zukunft selbst zum Thema gemacht: Ahnt deine Hand mehr, und setzt das auch um, als dein Kopf vielleicht weiß, oder realisiert?

Ich verstehe es so, dass es ein Spiel mit veräußerlichten Faktoren ist, die auch für sich oft stehenbleiben. So bleibt die Haut des Menschen Inkarnat und zeigt nicht grüne Männchen oder rote Häuser. Es bleibt eine Anbindung an die reale Welt, weil die Gegensätzlichkeiten dieser Erscheinungen mich aufreiben und interessieren. Ein dialektischer Gedanke. Es stimmt schon, dass es immer wieder bei mir Bilder, sogar ganze Folgen gibt, die dann wiederum prophetisch erscheinen, wenn eine Bildkategorie erneut die Medien flutet. Anfang 2008, über ein halbes Jahr vor der Lehman-Pleite, stellte ich z.B. Zeichnungen aus, die Spielhöllen zeigen, wo wütende Maskierte Casino-Schaufenster eintreten. Oder junge Leute in Zelten usw. campieren, was an die spätere Occupy-Bewegung erinnern mag. Nein, es ist natürlich nicht Hellseherei. Solche Sachen liegen ja in der Luft und kündigen sich an. Bei G8 Gipfeln gab es zuvor schon Tote und die Fotos dazu.

Das Obama Bild im Gym habe ich im Januar 2009 gemalt, kurz nach dem amtlichen Wahlergebnis. Er ist ja überhaupt nur von hinten zu sehen, lediglich die Flagge weist auf ihn hin, und die könnte in Amerika überall hängen. Aber es scheint bei dieser grob hingemalten Figur für jeden klar zu sein, dass es Obama sein könnte, auch wenn der Titel das überhaupt nicht hergibt. Es war zu diesem Zeitpunkt absehbar, dass ein Mensch in so einem Amt nicht besonders viel regeln kann. Im Zweifelsfall kann er bei aller Sympathie selbst mit Nobelpreis im Rücken nicht mal ein verdammtes Gefängnis schließen.

Also ist es eher der als Künstler geübte Blick auf die Details, die – entsprechend zusammengefügt und optisch aufbereitet – dem Betrachter Einblick in eine zukünftige Möglichkeitsebene gewährt: und sei es auch ein Kampf gegen Windmühlen, wie das Beispiel Obama versus Guantanamo Bay einer ist. Du könntest dem also zustimmen, wenn Tilman Osterwold über dich schreibt: „der Künstler [also du] denkt politisch und ist politisch motiviert“[12]?

Für mich ist es natürlich in Ordnung, wenn die Arbeit über den Inhalt und die Maniera dann einen „Grundton“ erzeugt, der Aussagen über die Zeit ermöglicht. Die Differenz von Ziel und Wirkung menschlicher Aktivitäten. Über eine Kakophonie von Farbklängen, Überfülle, Zusammenhalt im Chaos und Witzigkeit in der Verzweiflung, aber auch Trost in der künstlerischen Aktion.

„Trost in der künstlerischen Aktion“: das musst du näher ausführen, das ist eine sehr starke Aussage.

 

Die Tätigkeit des Malens gibt Halt, befreit und legt Spuren. Sie stiftet Sinn und Erfüllung im Angesicht des ewig Unperfekten. Man zieht auch Produktives aus dem, was den Bach runtergeht oder der Wind verweht. Es bleibt etwas übrig - nämlich ein Bild.

 

Neben politischen Szenarien, wie wir sie eben angesprochen haben, findet sich in deinem Oeuvre immer wieder auch ein kritischer Blick auf die Medienlandschaft und deren Berichterstattung und Auswüchse, wie z.B. in Talg Show, das ja auch in der Ausstellung gezeigt wird. Die Medien gelten als vierte Gewalt in Deutschland. Ich finde den Gedanken, dass Kunst - mit der Möglichkeit, das Nichtkommunizierbare zu visualisieren und es zu entlarven - so etwas wie eine fünfte Gewalt[13] darstellen könnte, sehr gut anwendbar auf dein Werk. Wie siehst du deine Rolle als Künstler im Kontext gesellschaftlicher Verantwortung?

Der Künstler ist doch, seitdem er weder Staatskunst noch Sakralkunst machen muss, frei zu tun, was er will, bzw. was ihm der Markt nachfragt. Das wirft wiederum ganz andere Fragen nach Freiheit auf. Verantwortung wäre mir aber auch zu stark, weil mir der anarchische und aktionistische Grundton künstlerischen Tuns gut gefällt. Als Erzieher der Menschheit fehlt mir die Eignung, dafür wären meine Botschaften zu diffus oder zu vieldeutig. Wie beim Höhlengleichnis von Platon: Schatten und Projektionen lenken die Wahrnehmung dessen, der tief in der Höhle sitzt und auf die Wand starrt. Ich bin nicht in der Lage das aufzulösen. Aber ich behalte mir schon vor im Sinne des vorher schon erwähnten Spiels das Politische mit hineinzubringen, als Frage- und Antwortspiel. Manchmal als Statement, auch mal political incorrect. Die großen Mahner sind ja auch Leute, die hinten im Kopf keine Augen haben. Das Wort „kritisch“ ist ja dadurch nicht zutreffend, ich nenne es lieber „skeptisch“.

Lass mich hier kurz einhaken. Das Wort „kritisch“ habe ich auch deswegen gewählt, um das Wort „Ironie“ zu vermeiden. Gerade in Bezug auf dein Spiel zwischen Bildtitel und Bildmotiv halte ich diesen Begriff für überstrapaziert.

Kritisch bedeutet, dass man vom festen, guten Standpunkt aus den Zeigefinger hebt?

Nicht im Sinne von „Zeigefinger heben“, eher im Sinne von Hinterfragen. Und vor allen Dingen meine ich etwas Konstruktiveres, etwas, das reine Ironie meines Erachtens nicht leisten kann.

Ironie allein ist natürlich auch ein inflationäres Instrument, weil jeder Groschencomedian damit arbeitet. Man schwingt sich erhaben und distanziert über andere. Mich interessieren dagegen die parallelen Ebenen drüber und drunter auch in ihrer Struktur und Verstrickung. Der betont ironische Ansatz wäre für den Gehalt eines Bildes wie ein Strohfeuer. Es genügen ja manchmal nur Zitate, Kombinationen und Verschiebungen, um Sachverhalte zu öffnen. Tucholsky nannte den Satiriker vor fast 100 Jahren einen „gekränkten Idealisten“. Wissend, dass das Ideal letztlich irgendwo auch langweilig ist, hat Satire eine Denkrichtung und nicht nur Zoten.

Bedienst du dich gerade in Bezug auf die Medien solcher satirischen Elemente, die dadurch einen kritischen Charakter bekommen?

Naja, ich finde es immerhin bemerkenswert, wie Echtzeitberichterstattung zu immer größeren Exzessen und kurzfristigen Erhitzungen führt. Wie Debatten als Blitzkrieg zu übergreifenden Hysterien mit Meinungssalven ausarten, die aber nach kürzester Zeit komplett unproduktiv erstarren und abkühlen, in immer dichteren Abständen. Diese Hysterien verstopfen alles andere, das in diesem Moment nicht aussetzen muss oder nicht stattzufinden scheint. Das ist fast schon eine Art kollektive Psychose oder gesellschaftliche Wahrnehmungs-Autoimmunerkrankung. Aber da bin ich wohl nicht so ganz ausgenommen. Auch wenn ich, was ich wie gesagt nicht abstreite, durchaus auch beim Malen politisch denke - ein politischer Einfluss fällt hier weg, auch weil ich als Künstler ja wenig Breitenwirkung aufbauen kann. Und sonst muss man es auf eigenartig platte Weise machen, wie diejenigen, bei denen Kunst dann irgendwann zum Klingelton wird. Nachdem Christoph Schlingensief im Jahr 2000 die Ausländer raus!-Aktion mit den Containern in Wien gemacht hatte, wo ja heftigste rechtsradikale Sprüche und Abschiebung von illegalen Ausländern per Internetwahl Bestandteil waren, äußerte er sich zu seinen Motiven. Er interessiere sich ausschließlich für Bilder, die durch „Störungen“ entstehen, wenn verschieden Systeme miteinander tanzen. Wenn Kunst die Welt verbessern könne, wäre Politik schon längst eingestiegen, würde tolle Bilder malen, an Litfaßsäulen hängen und alle Probleme wären gelöst.[14] Seine „Schmutzplastik“, wie Sloterdijk die Aktion nannte, schob sich wie ein Hefekuchen unter die Leute, und alle mussten in dem kleinen Welttheater Standpunkte ausloten und sich dazu verhalten, was ein bleibendes Bild ergibt. Damit kann ich etwas anfangen. Mir geht es so, dass ich viel weniger an den Rezipienten denke, als man meinen mag und dann schon gar nicht mit einer „was will uns der Künstler damit sagen“ Attitüde, die per Copy & Paste wertvolle Botschaften ins Betrachterhirn postet.

Eben sprachst du davon, dass deine Botschaften im Zweifelsfall zu diffus oder zu vieldeutig wären.

Spielräume der Vieldeutigkeit sind gut, Hohlräume der Beliebigkeit sind schwachsinnig. In diesem Spannungsfeld muss es sich als Bild beweisen. Aber ich möchte mir nicht die Freiheit nehmen, mit Haltungen und Aussagen zu spielen, im Theater kann ja auch eine Figur im Spiel Dinge tun und behaupten, die nicht die Privatmeinung des Autors wiedergeben. Ich weiß ja meistens auch nicht vorher, wie das Bild nach dem Malprozess aussehen wird und kann frei nach Francis Picabia verfahren: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ Mit diesem Kopf kann ich dann nickend, wiegend oder schüttelnd alles ansehen, was als mediales Strandgut so anlandet. Das Bild wird im Idealfall ein komplexes Konstrukt werden, das von Plattitüden und Sentiment befreit auf technisch hohem Niveau geistige Inhalte wie körperliche Stimmungslagen seismografisch aufzeichnet. Das ist der Versuch, auf diese traditionelle und anachronistische Art und Weise Bilder von Hand zu machen, die dennoch eine eigenartige Relevanz zu ihrer Entstehungszeit haben.

Ich beobachte seit längerem, wie sich in deinem Werk der Wort-/Bildanteil verschiebt. Deine Songtexte und auch deine Musik werden immer präsenter, immerhin hast du während der Vernissage fast eine Stunde mit der Band Art-Attacke gespielt und Texte vorgetragen. Und sie scheinen mir in ihrer Bedeutung ein Stück weit die Funktion einzunehmen, die früher allein deinen Bildtiteln vorbehalten war.

Angefangen hat es schon mit den Bildtiteln, da kommen ähnliche Strategien zum Tragen wie bei der Findung des Bildes. Jede Arbeit bekommt einen Titel. Er wird sprachlich und semantisch verschränkt. Mit Sprachfärbung, Klangfarbe und Tonlage hat man ja schon fast bildnerische Begrifflichkeiten. Ich spreche den Titel also laut und in unterschiedlicher Mundart vor mich hin, so wird das ein Dada-Esperanto. Mit diffundierenden Lesarten. Es ist nicht so sehr die Aufgabe des Titels, dass er etwas klarstellt, er soll einen Resonanzraum hinstellen und öffnen. Es entsteht eine Wechselwirkung mit dem Bild, eine Veredelung. Keine Erklärung, sondern Zerklärung[15]. Und die längeren Texte entstanden eigentlich aus der Not heraus: Ich sollte vor einigen Jahren für einen Katalog einen Text zum Bild liefern; dieser wurde dann eher ein assoziativer Text, der das Bild ergänzt hat. Es hat sich Potential gezeigt und das Schreiben hat sich dann zunehmend mit eingeschlichen. Die Songtexte haben dann noch eine ganz andere Struktur. Aber letztlich geht alles zurück auf einen unbehaglichen Kern.

Zurück zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs und deiner Motivation, Kunst zu machen. Angenommen, du hättest nur noch 24 Stunden zu leben: welches Bild würdest du malen?

Vielleicht würde ich noch ein bisschen was anderes tun als malen, aber so zwei bis drei Stunden könnte ich dafür schon investieren. In diesem Moment würde ich vielleicht in den Spiegel schauen und ein kleines und schlichtes Selbstportrait als schöne Selbstbetrachtung im Diesseits nehmen. Als Selbstbelichtung und Dokument. So ähnlich im Format wie die Mumienportraits der Römer. Das wär´s dann vorerst.

Das passt doch als Schlusswort. Vielen Dank für dieses sehr aufschlussreiche Gespräch, Wolfgang! Dann können wir uns jetzt ja zurücklehnen, und uns ganz entspannt, sozusagen „off the record“, dem Boxsport zuwenden (schaltet das Aufnahmegerät ab).

Literaturliste

Ballaststoffe. Wolfgang Neumann, hrsg. vom Kunstzentrum Karlskaserne, Ausst. Kat. Kunstzentrum Karlskaserne Ludwigsburg 2009, Ludwigsburg 2009.

Mittelbemindert. Wolfgang Neumann, hrsg. von Colmar Schultze-Goltz, Ausst. Kat. Städtische Galerie Ostfildern 2008, Bielefeld / Leipzig 2008.

Neumann, Wolfgang: Kugelsicher,Ludwigsburg 2004.

Sürpression. Wolfgang Neumann, hrsg. vom Kunstverein Worms, Ausst. Kat. Kunstverein Worms 2010, Marbach 2010.

Wanwiz. Wolfgang Neumann, hrsg. von fine arts 2219. Galerie für Kunst der Gegenwart, Ausst. Kat. fine arts 2219. Galerie für Kunst der Gegenwart, Stuttgart 2006, Bielefeld / Leipzig 2006.

Wolfgang Neumann. Peak Flow, hrsg. vom Landkreis Esslingen, Ausst. Kat. Abschlußausstellung Stipendium des Landkreises Esslingen 2010-2013, Kulturpark Dettinger, Plochingen 2013, Esslingen 2013.

Wolfgang Neumann. Viva Navi Naiv, hrsg. von Irmgard Sedler, Ausst. Kat. Museum im Kleihues-Bau, Kornwestheim 2011, Kornwestheim 2011.



[1] Wanwiz 2006, S. 17.

[2] Ebda., S. 94.

[3] Ebda., S. 56 f.

[4] Ebda., S .52.

[5] Ebda., S. 88.

[6] Neumann 2004, S. 59.

[7] Viva Navi Naiv 2011, S. 66 ff.

[8] Mittelbemindert 2008, S. 66.

[9] Ebda.

[10] Tilman Osterwold, „Meine Kontur…“, in: Peak Flow 2013, S. 5.

[11] Vgl. Sürpression 2010.

[12] Osterwold, in: Peak Flow 2013, S. 7.

[13] Anm.: die Metapher „fünfte Gewalt“ ist u.a. auch mit dem Begriff „Lobbyismus“ besetzt, Quelle: Wikipedia.

[14] Vgl. Ausländer raus. Schlingensiefs Container, Regie Paul Poet, Österreich 2001.

[15] Anm: „Zerklärungsbedürftig“ als Ausstellungstitel der Einzelausstellung im Kunstverein Trier, 2008.