supermachtlos
Ein künstlerischer Imperativ
von Dr. Sabine Heilig (Oktober 2015)
Er wolle mit seinem Werk »ein großes Moment an Zeitgeistigkeit und »Zeitzeichenhaftigkeit
«(1) schaffen, hat Wolfgang Neumann in einem Gespräch einmal formuliert und
sein Kunstschaffen allgemein mit einem »optisch-geistigen Stoffwechselprozess«2 verglichen.
Der Maler, Zeichner, Grafiker, Objekt- und Videokünstler arbeitet spartenübergreifend.
Er artikuliert sich nicht nur mit Stift und Pinsel, sondern auch über die Sprache: ein
Dichter und Denker eben. Häufig kombiniert er in Ausstellungskatalogen Bildmotive
und eigene Lyrik, ergänzen sich Bildwitz mit Sprachwitz zu einem Gesamtkunstwerk.
Doch wirklich witzig präsentiert sich Wolfgang Neumanns Kunst nicht – kein Wunder,
denn der Künstler versucht sich einen Reim auf unsere Gegenwart zu machen (3). Er
selbst spricht von einem Stimmungsbild, der »zeitgeistigen Stimmungslage« (4), die er in
realistische Bilder umsetzt. Mit »spitzer Feder«, expressiver Geste und kontrastreicher
Farbigkeit reagiert Neumann auf die Absurdität der Wirklichkeit, die, wie er sagt, durch
nichts mehr zu überbieten sei.
Das achte Stockwerk der Stuttgarter Stadtbibliothek dient ihm für vier Monate als
Plattform, seine Gedanken zu vermitteln, manchmal augenzwinkernd und ironisch,
dann wieder aufreibend und provokant, jedoch immer mit scharfem Verstand.
Hauptprotagonist seiner Kunst ist der Mensch, seine Leidenschaften und Träume, seine
Schwächen und Verfehlungen. Neumanns Stilmittel sind die Übertreibung, die Verfremdung,
die Verunsicherung und die kritische Selbstbetrachtung. Karikaturistisches
findet sich in seinen Bildmotiven ebenso wie Elemente der Satire. Seine Kunst hat einen
auffordernden Charakter, sie zielt auf Besserung und Veränderung der Situation durch
Reflexion und ist nicht nur spiegelbildlich zu verstehen. Haben die Veristen der Zwanziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts (Dix, Grosz u.a.) die gesellschaftlichen und politischen
Missstände nach dem 1. Weltkrieg angeprangert, so zielt Wolfgang Neumanns
Kunst auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, der in der prüfenden Betrachtung
Einstellungen hinterfragen und Veränderungen in Gang setzen soll.
Der Künstler erreicht das, wie gesagt, über bildkünstlerische und sprachliche Mittel. So
kombiniert er collageartig unterschiedliche Motive, die im Zusammenspiel von Bildtitel
und Darstellung wirken. Neben dem sprachlichen Ausdruck, den assoziativ und manch-
mal auch paradox klingenden Titeln, setzt der künstlerische Gestus Marken. Neumanns
Zeichenkunst lebt vom expressiven Stil und den beinahe dadaistisch oder surreal wirkenden
Kompositionen. Tusche, Kohle, Bleistift, manchmal mit Aquarell koloriert, werden
auf unterschiedlichen Papieren verwendet. In der Schwarz-Weiß-Technik illustriert
Wolfgang Neumann sein Panoptikum des Zeitgeschehens in einem journalistischen
Montagestil. Er erstattet Bericht, kommentiert und entlarvt durch Stilmittel wie Groteske
und Agitation im Sinne einer aufklärerischen Haltung. In seinen Epigrammen
(Sinngedichten) finden wir diese Vorgehensweise wieder. Dazu eine Strophe aus »Medien,
Ja Medien«:
»Ich bin flach/ wie ein Bildschirm/ ich passe durch unter der Tür/ ich bin wach/ wie ein
Bewegungsmelder bleibe ich dran/ und nichts ist Pflicht, alles ist Kür.« (5)
Neumann kehrt die Verhältnisse in seinen Darstellungen gerne um, macht den Täter
zum Opfer und umgekehrt und die Hilfegebenden zu Hilfesuchenden. Als Beispiele
hierfür seien zwei Zeichnungen hervorgehoben: »not-see« in dem die politischen Entscheidungsträger
selbst dichtgedrängt in den Booten sitzen, in denen eigentlich die
Flüchtlinge ankommen. Oder er zeigt Machtmenschen wie Assat und Putin demütig
in Büßerposen versenkt, so als ob sie mit dieser Verteidigungsgeste für ihr Handeln
Absolution bekämen (»Apologistia«).
»Der Input funktioniert eigentlich pausenlos auf allen Kanälen«, sagt Wolfgang Neumann.
»So wie ein Bartenwal schwimme ich durch einen Strom an Informationen und es bleibt entsprechend
viel Futter (…) hängen.«(6)
Aus dem freien Spiel des Künstlers mit diesen Anregungen werden vielschichtige Bildszenerien
entwickelt, durch die sich der Betrachter hindurcharbeiten muss. Jede Arbeit
enthält verschiedene Bedeutungsebenen, in denen die gegenständlichen Einzelmotive
komplexe, verschlüsselte Botschaften vermitteln.
»je pense« heißt ein Blatt, das sich auf dem Buchtitel wiederfindet. Ein gnomartiges
Wesen sitzt festgenagelt in einer Art Ohrensessel. Über die untere Gesichtshälfte, den
Mund verdeckend, ist in Französisch der Satz »je pense« zu lesen: Ich denke. Die Darstellung
irritiert, denn die Figur wirkt gerade so, als ob diesem festsitzenden »Hanswurst« (7)
seine geistige Leistungsfähigkeit schon längst abhanden gekommen sei. Die bequeme
Sitzunterlage, vielleicht ein Fernsehsessel, umschmeichelt die Körperform, warum also
sich geistig fortbewegen, wenn es einem derart leicht gemacht wird, den Auswüchsen
der medialen Berichterstattung ohne große Anstrengungen zu folgen? »Jepense donc
je suis« - ich denke, also bin ich: Dieser berühmte Satz des französischen Philosophen
und Mathematikers René Descartes (1596-1650) beschreibt das Denken als besondere
Geistesleistung des Menschen, der damit seine Daseinsberechtigung erhält. Sein 1641
formulierter Grundsatz (lat. cogito ergo sum) forderte Klarheit und Differenziertheit im
Denken. Um dies zu erreichen, sei, so Descartes, u.a. eine analytische Vorgehensweise
ebenso notwendig wie die nötige Skepsis gegenüber der Realität. Diese Verstandesleistung
fordert auch Wolfgang Neumann. Als Grenzgänger zwischen den Gattungen
fällt es ihm leicht, den Rezipienten seiner Kunst mit ins Boot zu nehmen. Durch das
Schneiden, Montieren und Kombinieren von Bildern, eigentlich Merkmale des Films,
gelingen ihm sprachliche und bildliche Aussagen, die für sich sprechen. Das Herstellen
von Bildern aus Bildern ist in der zeitgenössischen Kunstsprache weit verbreitet und
entspricht unserer zunehmenden Gewohnheit, über Bilder zu kommunizieren. Und je
mehr Bilder es werden, desto stärker müssen sich einzelne von ihnen davon abheben,
um überhaupt wahrgenommen zu werden.
»Virtual earthlings« nennt Wolfgang Neumann eine Serie kleinformatiger Tonplastiken.
Was von diesen »Erdlingen« übrig geblieben ist, sind ihre Köpfe; diese sind schrundig,
kantig, versehrt und verfremdet. Die menschliche Physiognomie spiegelt die Zerrissenheit
des Menschseins in existentialistischem Ausdruck. »Virtual« sind sie deswegen,
weil ihnen alles Menschliche abhanden gekommen zu sein scheint oder weil sie gerade
deshalb so menschlich erscheinen, so verletzlich und erbarmungswürdig. Neumann hat
den gebrannten Ton mit Acrylfarbe farbig gefasst, was ihm damit einen völlig anderen
Charakter verleiht. Ohne genau hinzusehen könnte man auch an Metall oder ein anderes
Material denken – virtuell eben – es scheint nur so. Manche sind derart verformt,
dass man auch an kleine Steine denken könnte, deren Form eine Laune der Natur ist.
Ist in ihnen die Bedrohlichkeit des Lebens gespeichert, so greifen diesen Gedanken
auch die neben den Tonköpfen präsentierten Kreidezeichnungen auf. Eigentümlich
im Kontrast wirkt die bunte Aquarellfarbe, die den Gesichtern etwas von ihrer Härte
nimmt. Sind diese Gestalten »supermachtlos«?
Neumanns Malerei spiegelt seine ästhetische Distanz gegenüber der Wirklichkeit. Mit
den Mitteln der Fiktion hinterfragt er das Zeitgeschehen. Die malerische Fiktion (oder
Erfindung bzw. auch Illusion) dient als individuelle Äußerung zur Lösung eines Problems.
Stilistisch heißt das: Die Komposition wird handschriftlich angelegt. Der Auftrag
der Farbe bleibt als bewegter Duktus sichtbar, der malerische Akt wird zum Selbstausdruck,
in der sich die Malerfahrung des Malenden widerspiegelt; Neo-Expressionismus
und subjektive Bekenntnisse der Welterfahrung.
Die Notwendigkeit zu malen, sei immer da, sagt Wolfgang Neumann, dem es in seinen
Gemälden nicht nur um Inhalte, sondern auch um die Malerei selbst geht, um Farbverläufe
z.B. oder frei gelassene Partien, aus denen die Leinwand noch herausschaut.
Dem Betrachter freilich drängt sich die Gegenständlichkeit der Motive förmlich auf.
Was ist dargestellt und was soll das bedeuten?, sind die ersten Fragen, die man sich
vor einen Bildern stellt. Die Bildtitel geben, wie gesagt, nur bedingt Auskunft darüber.
In »Zeiger kratzen Kurven« schwebt eine große gelbe Sonne als Digitaluhr über einem
Landschaftsmotiv. Sie wird von zahlreichen Einzelmotiven umgeben, die keinen Zusammenhang
erkennen lassen: Eine Frau in rotem Bikini am rechten Bildrand, links vorne
einen Läufer in Startposition, der mit einer Kette am Fuß nicht von der Stelle kommt.
Im Hintergrund befindet sich auf einer Art Wiesenwolke eine Kirche mit spitzem Turm.
Darüber schwebt die flimmernde Sonnen-Uhr in einem grauen Wolkenhimmel, in dem,
eine Tiefenillusion erzeugend, weitere Motive auftauchen. Im Malduktus sich windender,
spiralförmig zulaufender, ineinander ornamental verwobener Farbpartien mag man
an die Himmelszenarien von Vincent van Gogh (Sternennacht) oder Edvard Munch
(Der Schrei) erinnert sein, was einen apokalyptischen Eindruck erzeugt. Das meiste in
diesem Bild ist in Bewegung, man könnte beinahe das Gefühl haben, als ob die graue
Masse strudelartig alles in die Tiefe ziehen würde, ins Jenseits hinein. Der expressive
Farbauftrag, die z.T. Kontrastreich nebeneinander gesetzten Farben und die virtuos gemalten
Bildgegenstände verbinden sich in der Gesamterscheinung zu einem komplexen
Kompositionsgefüge von beängstigender Direktheit.
Das zweite Gemälde der Ausstellung »Die großen Streber« mutet beinahe wie eine Rezeption
von Otto Dix‘ »7 Todsünden« (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe) an. Dem Betrachter
kommt ein Zug korrekt gekleideter Managertypen in Anzug, Hemd und Krawatte
entgegen. Zwei geisterhafte, schwebende Gestalten stören den Aufmarsch der
»Streber«. Ihre weit ausgebreiteten Arme wirken bedrohlich auffordernd. Der Hintergrund
ist feurig in Rot und Gelb gehalten, was der ganzen Szene einen gespenstischen
Charakter verleiht.
Tilman Osterwold hat die Malerei von Wolfgang Neumann folgendermaßen beschrieben:
»Ein wesentliches Kriterium in Wolfgang Neumanns Bildphysiognomien ist das Moment der
Inszenierung: die Regie, eine Dramaturgie, die in das Bild hineinführt. Ebenen verschieben
sich, Bildelemente kommen und gehen. Das Bildgeschehen (…) ist gespickt mit Überraschungen
(…) gespeist aus Mixturen, Collagierungen, Durchkreuzungen, Durchdringungen,
Konfrontationen ...«.(8)
»Das Ideale, Vollendete und Perfekte ist mir suspekt«(9), sagt Neumann selbst dazu. Im gleichen
Zusammenhang fallen Begriffe wie das Absurde, das Märchenhafte, das Magische.
»Für mich ist es (...) in Ordnung,« ergänzt er, »wenn die Arbeit über den Inhalt (…)
einen ‚Grundton‘ erzeugt, der Aussagen über die Zeit ermöglicht. (…) Über eine Kakophonie
von Farbklängen, Überfülle, Zusammenhalt im Chaos und Witzigkeit in der Verzweiflung,
aber auch Trost in der künstlerischen Aktion.«(10) Durch diese, am Ende des Zitats ausgesprochene
Sensibilität erreicht der Künstler, dass sein Werk nicht belehrend oder
anklagend wirkt. Sein Schaffen ist ein Aufruf zur Nachdenklichkeit und eigenen Standortbestimmung
ohne den warnenden Zeigefinger.
Ein Thema, das von ihm immer wieder aufgegriffen wird, ist die Auseinandersetzung
mit den Medien. Acht sogenannte »Exputs« sind in den großen Bibliothekskästen zwischen
den Bücherregalen präsentiert. Es sind Digitaldrucke auf Stoffbahnen, basierend
auf Aquarellen, die abperlend auf einer Plexiglasplatte gemalt und danach gescannt und
vergrößert wurden. Die Motive wirken aus der Ferne. Man erkennt Menschen, die in
Büchern oder Zeitungen lesen, Nachrichten von Handys abfragen, sich mit Medienberichten
beschäftigen. Links und rechts der figürlichen Szenen sind überdimensional vergrößerte
QR-Codes eingearbeitet, in Blau und Rot. Die Informationsaufnahme seiner
Figuren scheint dadurch gestört, so bedrängt werden sie von den graphischen Zeichen.
Die labyrinthischen Code-Formen sind durch den handschriftlichen Gestus unleserlich
gemacht. Sie gehen auf vom Künstler erstellte Nachrichten zurück, die Taten des Menschen
in seinen Extremen offenlegen: so führte einer der »links« zur Zerstörung der historischen
Stadt Palmyra durch terroristische Akte. Daher enthalten sie keine Botschaft
mehr, scannen ist vergeblich. Es gibt keine Inputs, sondern nur »Exputs«.
Sind wir alle »supermachtlos« im Getriebe der Wirklichkeit? Im Ausstellungstitel steckt
die rhetorische Figur eines Oxymorons, das ist eine sinnreiche Verbindung zweier anscheinend
widersprüchlicher Begriffe. Super ist toll, machtlos ist es weniger. Es steckt
auch »Supermacht los« darin, was imperativ sein kann oder eine n Verlust an Ordnungseinfluss
oder Gewichtigkeit verdeutlicht.
Hierin entdeckt man Wolfgang Neumanns Denken in Widersprüchen, denn:
» … im Ungeklärten ist viel mehr Wahres und Mögliches als im Eindimensionalen oder Einfältigen.
Der Resonanzraum des Unscharfen ermöglicht neue Blickwinkel.«(1)1
1 Wolfgang Neumann im Gespräch mit Helge Baumgarten, Berlin April 2014, in: Ausst.Kat. Flashlight/Blackout,
Egbert Baqué Contemporary Art Berlin 2014, S. 8
2 ebenda
3 Anders G. Nannen: Der Kompressionist auf geriatrischem Terrain, in: Ausst.Kat. Wolfgang Neumann, Geriatric
Playground, Galerie Oberwelt e.V., Stuttgart, 2015, S. 4
4 Im Gespräch mit der Verfasserin im Oktober 2015
5 Aus: Ausst.Kat. Flashlight/Blackout, Egbert Baqué Contemporary Art Berlin 2014, S. 18
6 Wie Anm. 1
7 Wie Anm. 4
8 Tilman Osterwold: „Meine Kontur ...“, in Ausst.Kat. Wolfgang Neumann, peak flow, Esslingen 2013, S. 5
9 Wie Anm. 1, S. 6
10 Ebenda, S. 10
11 Wie Anm. 1